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jurij m. lotman (R.I.P.)
die grenzen des textes sind die grenzen der welt

 
... ein sehr gewucherter reflex (rekordlänge!) auf einen klugen comment, sehr provisorisch, auch damit das im fluss bleibt:

zugegeben, auf den ersten blick sieht alles nach pop aus: diese subjektivität, dieses mediale dauernd, dieses fragmentarische. manchmal auch: die pose, der gestus.
„das subjektive“ nicht als tiefenphänomen, sondern als cluster von fragmentarischen zeicheneffekten. POP = das soziokulturelle labor für experimente mit zeichen in der mediengesellschaft seit den 50er jahren. insbesondere für verschmelzungen mit „körper“, was aber genau nicht zu „authentizität“ führt, wie einfache pop-akteure (popliteraten, blogger) gerne meinen, sondern gerade umgekehrt zu aufgeladenen zeichen, die für momente mit „leben“ zusammenfallen.

was ich mich aber doch frage: was unterscheidet das blog vom (klassischen) tagebuch? was hat der dahlmann, was der lichtenberg nicht hat? eigentlich nur das, was das medium ihm erlaubt: bilder und links und eine schnell reagierende öffentlichkeit, die die kommentare vollschreibt. machen die gegebenheiten des mediums schon das poppige aus? (auf jeden fall machen sie das bloggige aus.)

gut gesagt. ja: die gegebenheiten des mediums, genauer gesagt: ihr gekonnter gebrauch und ihre permanente reflexion machen das poppige aus. „pop“ hier wie in „e-pop“, wobei ja „e“ nicht von „ernst“ sondern von „erkenntnis“ kommt. (ganz schwierig: das verhältnis von e-pop und u-pop …)

das eben ist der unterschied von guter pop-literatur (goetz, der eben mit vollem einsatz vorführt, dass es um „schreiben als projekt“ geht und nicht um den perfekten text) und schlechter bis mittelmäßiger pop-literatur (immer dann, wenn sie von befindlichkeit ausgeht statt von konstruktion, was impliziert, dass sie „pop“ nicht begriffen hat). Stuckrad scheint mir übrigens auf dem weg vom eher uninteressanten „popliteraten“ (stadtzeitungs-pubertätsironie-virtuose) zur hochinteressanten warholistischen imitatio-of- goetz, plus anke engelke und allem.

so wie die popliteratur ein bestandteil der popkultur ist, sind auch blogs ein bestandteil davon: klar, die nachbarschaft färbt ab, die zeitgenossenschaft ebenfalls. wer heute ein (öffentliches) tagebuch führt und den medienbezug wegläßt, kann nicht ehrlich sein, kann nur unvollständig sein. weil einfach jeder sich übers fernsehprogramm aufregt, ohne dabei pop zu sein.
unterschieden werden muss wohl medienkultur (und medienreflexion) allgemein und pop-medienkultur im besonderen (schnell, schmutzig, euphorisch, geschmacklos, stilbewusst …). zeitgenossenschaft ohne selbst „pop“ zu sein (was immer das heißt) geht schon, aber ohne pop-bewusstsein wiederum wohl doch eher schwer. mein lieblingsliteraturbuch seit 13 jahren: don delillo, sieben sekunden, ist sicher nicht pop. aber er ist natürlich voll pop-sozialisiert und hat auch 1971 oder so einen sehr grüblerischen roman über einen jim-morrison-rockstar geschrieben.

das problem mit der pop-tüte ist, daß sie so groß ist, daß alles irgendwie reinpaßt. es kann aber doch nicht sein, daß man die so mit der twoday-anmeldung überreicht bekommt: da, nimm, alles was du fortan schreibst, ist jetzt pop, weil es blog ist. ich denke, da müßte man sich mal die mühe machen, die einzelnen publikationen zu prüfen. blog ist sehr heterogen und zuallererst mal ein redaktionssystem und nichts weiter.
irgendwie glaube ich ja genau das: dass man die pop-tüte mit der twoday-anmeldung überreicht bekommt. meine erfahrung zumindest … aus versehen angemeldet, aus versehen „aging of pop“ zum leitmotiv geworden …

alles passt aber ganz sicher nicht in die tüte, aber da muss ich wirklich noch darüber nachdenken: mein unveröffentlichtes hauptwerk über tagebuch-literatur muss wohl mit einem aufsatz über „diaristische schreibweisen in der neuen medien-kultur seit 1984“ (oder so) ergänzt werden.

jedenfalls aber: blog ist ganz sicher NICHT „ein redaktionssystem und nichts weiter“, in das dann verschiedene leute verschiedene dinge reintun. was „blog“ ist, da habe ich schon mit meinem damaligen mediatope-kollobaroteur gestritten. noch kein abschließendes ergebnis.
*anm.: dort auch gedanken zu "blog" und "pop", hier und passim.

dazu kommt die problematik, daß blog ein phänomen ist, das zuerst in den usa aufkam. nun, wie halten es die amerikaner mit der popliteratur? oder betrachten wir die deutschen blogs unabhängig von den transatlantischen einflüssen - was m.e. nicht ganz legitim ist?
guter punkt. die amerikaner benutzen „popliteratur“ gar nicht. Die franzosen benutzen es selten als fremdwort, wie „waldsterben“. wieder das problem, dass der literaturhistoriker oft hat: begriffe konstruieren und definieren, die aus der zeit selbst kommen, aber natürlich nur als künstliche instrumente erkenntnisfördernd sind (oder eben nicht). Ich glaube schon, dass der begriff hier nützt. wie gesagt: genau wie z.b. „neue sachlichkeit“, für das ganz ähnliches gilt, inklusive hype.

das sollte man erst mal historisch untersuchen: „pop“ ist ja vor allem in GB ein extrem wichtiges wort, eigentlich stammt fast alle wichtige pop-philosophie von dort (außer warhol natürlich), und trotzdem haben sie keine explizite „pop-literatur“ entwickelt. möglicherweise war das gesonderte etikett völlig überflüssig, weil ja die distinktion zum "alten feuilleton" hier ganz anders aussah.

dann ist „pop“ um 1980 (punk, „sounds“ und die folgen) neu entdeckt und definiert worden. und von da aus führt eine direkte linie durch das mainstream-feuilleton (münchner clique, früher sz, jetzt fasz und spiegel) und „tempo“ zu den tristesse-royale-leuten, was wiederum ein überraschend gutes experimentelles buch ist übrigens. Und das beste aus der hochzeit der „pop-literatur“ scheint mirt ansonsten tatsächlich „ampool“ zu sein (neuerdings offline??), wenn man die texte herunterlädt und als papiertext liest.

was wiederum zur überaus schwierigen frage führt, wie und wann aus text „literatur“ wird …

links zum antville-thread (via reisenotizen aus der realität, dem literaturinteressierten blog der kommentatorin):
> kurzer verriss zu "pop-literatur" (hella streicher)
> langer austausch zu literatur und pop-literatur im allgemeinen (don dahlmann u.a.)
jurijmlotman meinte am 8. Nov, 01:22:
querverweis ...
... zur weiterdiskussion woanders. ergiebiges literatur-blog. ich sollte doch mal herausfinden, ob und wo ich auf twoday referrers sehen kann... auszug:

"Die Frage ist ein Problem der Genre-Zuteilung. Dinge in Schubladen (Genre) zu ordnen ist eine formale Angelegenheit und der liebe (wenn auch schwerdepressive) Kurt Gödel hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß alle formalen Systeme Sätze zeitigen können, die nicht entscheidbar sind. Die Frage »Sind Blogs Popliteratur?« objektiv beantworten zu wollen zeugt (aus meiner Sicht) von Zagheit und Naivität, denn mit »Ja« ließe sich diese Frage nur beantworten, wenn man mit dem Hammer sowohl DIE Popliteratur als auch DIE Blogs zurechtdengelt.
Zur Erinnerung: Der Begriff (Web-)Blog bezeichnet erstmal auf technischer Ebene eine Schreib- & Veröffentlichungsform … so wie die Begriffe Holzstich, Collage und Readymade in der bildenden Kunst zuvörderst das Augenmerk auf Material und Verarbeitungsverfahren bei Graphiken richtet. Solange also beispielsweise der akademische Dschungel Theologie, Philosophie und Literatur (alles fiktive Dichtungen) in getrennten Wannen badet, ist es Heuchelei, beetete man mit großer Toleranzgeste Blogs im Ziergarten der Literatur ein."

was ich natürlich alles bestreite. und der naivität oder gar der ziergartenliebenden toleranz mag ich mich schon gar nicht bezichtigen lassen. ganz grob: "blog" ist (für meine zwecke) eine textsorte, die sich aus kulturellen praktiken, nicht unabhängig von technischen / interface-igen aspekten entwickelt, durchaus unterschiedlich in verschiedenen sprachräumen und historischen phasen. und "popliteratur" ist am ehesten als ein bündel von schreibweisen zu verstehen, die auf besondere medienkulturelle situationen reagieren. und ja, der textsorten-cluster "blog" weist zum schreibweisen-bündel "popliteratur" gewisse noch zu analysierende korrelationen auf. 
molosovsky antwortete am 8. Nov, 16:29:
Perfekt.
Besser hätte ich mich selbst nicht zurecht-rücken können … und vielen Dank, sowohl für das literarisch als auch für das ergiebig.
Übrigens: Don Alphonso hat sich für seine neueste, kräftige Abzirkelung des Themas den Eastwood-Poncho umgeworfen … das macht seinen Beitrag bei Blogs! Buch Blog aber nicht unbrauchbar, im Gegenteil. 
        

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