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jurij m. lotman (R.I.P.)
die grenzen des textes sind die grenzen der welt

 

aging of pop

prokrastinierend und spontan aus versehen meine erste amazon-rezension hingeschrieben, weil amazon per e-mail darum bat. dann eben hierhin, for the record:

der alte dylan ist für mich ein problem. als ich mal die texte auf bobdylan.com durchging und überlegte, welche ersten zeilen ich sofort die besondere magische wirkung einer bestimmten aufnahme im kopf höre, kam ich auf über 70. aber die allermeisten davon waren über 30 jahre alt.

die letzten großartigen songs/aufnahmen (bei dylan nicht zu trennen), die mir spontan einfallen, sind "Heart of Mine" und "Series of Dreams", mit abstand "Most of the Time", "Ring Them Bells" und "Love Sick". das heißt nicht, dass die aufnahmen aus dieser zeit sonst alle schlecht waren, aber sie waren nicht großartig. es gab nicht das zusammentreffen von song und magischem aufnahme-moment.

Tell Tale Signs zeigt mir, dass das nicht an den songs selbst gelegen haben muss: die beste dylan-platte seit ewig, deutlich besser als Modern Times, mindestens so gut wie Oh Mercy. dabei sind viele stücke outtakes, verstreute soundtrack-stücke und alternativ-versionen aus den letzten gut 20 jahren. aber erstens waren unter Dylans outtakes & verstreute songs schon immer unfassbare meisterstücke (eben Series of Dreams, I'm Not There und die ganzen Basement Tapes, I'll Keep It With Mine, When I Paint My Masterpiece, die BillyTheKid-ballade, usw. usw.)und zweitens tut es den stücken sehr gut, dass sie mehr so hingeschlenzt sind, nicht so eisig und in marmor gehauen wie auf Oh Mercy und Modern Times, aber auch nicht ganz so oberflächlich routiniert dahingedudelt wie seine tourband das seit -zig Jahren macht. und die verhärtete altersstimme ist plötzlich beweglicher und emotionaler.

die besondere mischung aus beiläufigkeit und tiefe also. kalkulierter zufall, bei dem plötzlich zeitlosigkeit entsteht, für einen moment. (und dann sein desinteresse, so etwas zu wiederholen. immer neue versuchsanordnungen suchen, die neue momente produzieren.) ich dachte, der alte dylan kann das gar nicht mehr, aber Tell Tale Signs ist der gegenbeweis. mindestens 10 al fresco-meisterwerke dabei, angeführt natürlich hier von Mississippi, das auf der offiziellen platte auffallend gut, aber nicht großartig war.

[*] Q&A: Was Pop ist
[*] Über Rock Mainstream (anlässlich Guns&Roses Comeback Album)
[*] Warum es keine Popkultur gibt", Vortrag FH Graz

als ich über Twitter gehört habe dass Diederichsen in Österreich am selben tag, in einer stunde, eine Pop-Vorlesung hält, jemand vorschlug das live zu streamen, das über make.tv sofort gemacht wurde, ich am heimischen schreibtisch dabei war, das live ins blog mitschrieb, dann in einem neuen blog post gedanken zu einer frage bündelte, die ich in Twitter als solche verlinkte, und die frage dann 5 minuten später vorgelesen und sorgfältig beantwortet wurde, und ich die antwort auch gleich hier mitschrieb, und Diederichsen fragte, wer sie gestellt hatte, und dann dieses Blog genannt wurde, das genaugenommen (im "Aging of Pop" thread) eine sehr späte wiederaufnahme der alten Spex/Sounds-kulturfragen war, undsoweiter undsofort ...

das ist zirkulation in einem unfassbaren tempo, das sich quasi selbst überholt. schwindlig machend. aber ein medium, das so etwas kann, *muss* doch revolutionär sein.

[ergänzend: der zufall, dass ich an eben dem tag vorher in der morgenzeitung (SZ) den ersten - übrigens sehr schönen - Diederichsen-essay seit menschengedenken gelesen hatte, über Axl Rose und das Guns&Roses comeback.]

... eine kleine schwache, eigenwillige stimme so auf einmal als kraftvoll und bedeutend wahrnehmen kann"

(Diederich Diederichsen in Web-Vorlesungsdiskussion, s.u., das Kraftzentrum des Pop beschreibend)

was hier fehlte:

die frühen singles in den 1930er jahren, v.a. auch Greil Marcus' großartige analyse der "folk"-song kultur auf schellacks, wie sich das singen verändert dadurch, dass die hinterwäldler staunend ihre eigenen platten hören, die wiederum eher eigensinnige spinner (und nicht "das volk") aufgenommen haben, und wie das dann wiederentdeckt wurde auf Harry Smith's anthology, als einer der ersten LPs ... und diese Spinner müsste man jetzt mit den Pop-"Stars" vergleichen

Das heißt: Pop-Kultur ist ja auch definierbar als eine Kultur, in der kleine, schnelle, schmutzige artefakte ZIRKULIEREN. wo es nicht um fertige produkte geht, sondern um das ständige Weiter als ein szenario, in dem man mitlebt.

Die Popmusik-Geschichte kann man da, wo sie lebendig war, als Kettenreaktion beschreiben. Das hat erstmal mit "Stars" nur auf sehr komplexe Weise zu tun: Die "Stimmen" und "Postures"/Haltungen, die in den neuen "Records" quasi als Lebensäußerung konserviert und von denen, die sie hervorgebracht/gelebt haben, sich abgelöst haben und als merkwürdige phantome weiterleben: "Der Dylan der Aufnahme von Like A Rolling Stone 1965" ist ein anderer Dylan als die vielen anderen Dylans vorher und nachher.

Und schließlich: Ist nicht tatsächlich DAS WEB so etwas wie der Folk in den 1930ern, oder wie der Wohnzimmer-Genie-Pop in London 1965, oder Post-Punk 1978/1979 ... eine zirkulations-kultur?

diedrich diederichsen, live gebloggt (via make.tv web-stream):

der begriff trägt zur verunklarung bei, weil er nicht hilft, die phänomene gut voneinander zu unterscheiden: alltagskultur, kunst, industrie etc. etc.

[wahr ist ja: was früher besondere techniken und patterns der pop-kultur waren, sind jetzt absoluter mainstream.]

eine geläufige definition: "pop-kultur lebt von stars, und dass jeder ein star sein könnte." (eh noch relativ brauchbar, so DD)

1. Geschichte: keine etymologische tradition im dtsprach. raum: deshalb denken alle gleich an "popmusik". in UK aber inzwischen wieder zurückgekehrt zum etym. ursprung "popular".

was ist jetzt "populär". und was ist "populäre kultur" nicht? was die opposition? antwort: eine kultur der popularität egal ist, weil sie eine andere legitimität hat. nun aber zur geschichte:

1a. volkskultur / herder: das breite volk gegen die elite, vielfalt der volkskulturen vs. einheitskultur. volkskulturen sind durch individualität legitimiert wie der bürgerliche künstler. hat etwas "wildes und wahres".
"das volk" wird aus der perspektive eines gebildeten (Herder) zum besseren "genie" befördert.

1b. massenkultur: umschlag in pessimismus: "volk" wird "masse". ende des 19. jahrhunderts: Gustav Le Bon, Trauma von Paris / Commune 1871.

[[fällt mir ein: in den 1920er jahren gabe es rechte (Diederichs-kreis, Friedrich von der Leyen, Thea von Harbou), die sich für großstadt, film und groschenhefte ebenso interessierten wie für Märchen.]]

1b. "arbeiterkultur": marxistisch. klassenbewusstsein. war normativer begriff: arbeiterbildungsverein. "was machen die denn so kulturell? was häkeln sie? ..."

2. historischer bruch 1900/1920: massenmedien.

nicht mehr: "was machen und basteln die so?" sondern: "was konsumieren die so?" und hier setzen an: Kritische Theorie (Frankfurt 1929), Cultural Studies (Birmingham 1959).

Kracauer: die "kleinen ladenmädchen gehen ins kino". erstmals so differenziert eine 'niedere' kulturelle gruppe. doppelt blinde untersuchungsanordnung: kennt weder "ladenmädchen" noch "kino", will jeweils das eine durch das je andere verstehen.

Dialektik der Aufklärung (1945): "kulturindustrie", (...) ist aber nicht einfach gezielte verblödung (etwa durch Hollywood). wieso kommt aber die ideologie & falsches bewusstsein zustande? mehr oder weniger automatisch, naturwüchsig, durch massenindustrielle herstellung von kulturwaren...

[[was hier fehlt: frühe singles in den 1930er jahren, v.a. auch Greil Marcus' großartige analyse der "folk"-song kultur auf schellacks, wie sich das singen verändert dadurch, dass die hinterwäldler staunend ihre eigenen platten hören, die wiederum eher eigensinnige spinner (und nicht "das volk") aufgenommen haben, und wie das dann wiederentdeckt wurde auf Harry Smith's anthology, als einer der ersten LPs ...]]

2b. Nachkriegszeit, 1947: Dialektik der Aufklärung veröffentlicht, kaum rezipiert [[JML: parallel ja 1947 start der "pop art" in UK, "pop" auf collage, name selbst dann erst 1956 oder so : werbung, magazine, jukebox, schundhefte ...]].

kino vs. radio: arbeitsteilung. stars in dunklen traum-räumen. radio ist alltag. aber jetzt, mit TV und Versandhandel, kommen waren ins haus. neues starsystem: aktiv, imitatorisch, expressiv, nicht mehr nur anhimmelnd.

[[da bin ich nicht ganz sicher, dass das wahr ist, dass es, wie DD sagt, nachgeahmte star-images in den 1930er jahren nicht gegeben hat ... Erich Kästner hat sich durchaus "massenmedial" selbst gestylet, seltsame großstadt-angestellten-dandys ...]]

2c. Birmingham, Birth of Cultural Studies (Ende der 1950er, während RnR und Skiffle, Institut in 1964 = beatles-Jahr): (1) es ist offenbar nicht einfach plane manipulation, weil die reaktionen/wirkungen so vielfältig sind; (2) es gibt aktive aneignung: jugendkultur, musik.

2d. erstmals die rede von "Popkultur" in den 1960er jahren: jugendkultur, gegenkultur, "um den gebrauch von popmusik entstandene kultur". die differenziert sich sehr schnell aus: (a) verbindet sich mit bildender kunst u.a. [[seit 1956 oder so in UK, seit ender der 1950er Warhol]] (b) verbindet sich mit politik, (c) verbindet sich mit neuen lebensformen, neo-lebensreform. zum ersten mal massenkultur als avantgarde.

neue performative struktur der popmusik: "stars" sind repräsentanten der massenkultur selbst, vs. hollywoodstar. [[lücke]]

[[das ist der emphatisch-qualitative POP-begriff, den DD verwendet:
kommt zu sich selbst 1964-1969, dann war es genaugenommen schon wieder vorbei.]]

die öffentliche person, die auf nichts mehr als auf sich selbst verweist. das ist der ursprung der neuen "celebrity"-kultur. das ist die fetischisierung und entleerung der besonderen selbst-aussagen der popkultur. jetzt aber (DD, kulturkritisch) celebrity "ohne inhalt".

[[das ist grob richtig, aber etwas simpel, möglicherweise: es gab auch flache popstars in den 1960ern, die interessant sind. da waren ja nicht all Dylan und Lennon. es gibt schon auch interessante aspekte an den leeren reality-"stars" der jetzt-zeit.]]

zurück zu Herder: volkskultur hatt einen zyklus, in dem sie herunterkam, bis zum nationalsozialismus.

so auch "popkultur": der mythos der "ehrlichen haut" (Dylan 1965) wird im zweiten schritt massenmedial hergestellt (Bono), im dritten schritt getrennt von der musik (die eine sehr komplexe selbstmach- und mitmach-kultur war) und nur noch "celebrity-kultur" [[wie verhält sich das zu Zsa Zsa Gabor]].

[[Dylan, das wär interessant: wie er in den Basement Tapes Sessons die alte auf Singles gepresste Folk-Kultur wieder experimentell belebt, wie er sich als "Alias" stilisiert, Mann ohne Namen, Sänger einer imaginären (!) Volkskultur]]

[[wie dann Marc Bolan in seiner großartigen phase 1971/72 genauso aussieht wie der Star-dylan auf seiner 1965-tour, ich glaube ja, unzufällig.
Dylan war ja neuer "popstar" avant lettre. komisch übrigens, Elvis nicht zu erwähnen!

Eigentlich ist das ja die purste zeit des pop-startums: Marc Bolan.

Joe Cocker dagegen, den DD in einem atemzug mit Bono erwähnt, war ja in wahrheit nie "Star", immer nur "Stimme", und er wurde dann halt zum 'leeren' klischee der "ehrlichen Stimme"]]

gut, das muss ich genau lesen und verarbeiten. erst mal nur der link als note to self.

eine von zwei personen, von denen ich mir je ein autogramm geholt habe. (der andere war Peter Hein.)

You can't judge an apple by looking at a tree,
You can't judge honey by looking at the bee,
You can't judge a daughter by looking at the mother,
You can't judge a book by looking at the cover.

Oh can't you see,
Oh you misjudge me,
I look like a farmer,
But I'm a lover,
You can't judge a book by looking at the cover.

Oh come on in closer baby,
Hear what else I gotta say!
You got your radio turned down too low,
Turn it up!

You can't judge sugar by looking at the cane,
You can't judge a woman by looking at her man,
You can't judge a sister by looking at her brother,
You can't judge a book by looking at the cover.

(Die Lyrics-Seite bewirbt Bo Diddley Ringtones: reizvolle Idee.)

... annotationen zu mediumflow's "Über Tiere in der Popmusik", von dem ich gerade netter weise eine vorab-version lesen durfte (in: Ich, das Tier, Reimer-Mann-Verlag, im Erscheinen).

abgesehen von der feststellung eingangs, dass tiere in der popmusik eine eher kleine rolle spielen, werden zwei paradigmen kontrastiert:

(1) wild-animalisch
(2) domestiziert

ad (1)
dazu fallen mir noch spontan Phil Filthy Animal Taylor (Motörhead) und John Cale ein, der 1978 oder so auf der bühne einem (Toten) huhn den kopf angebissen haben soll und den darauf die band flüchtenden musikern ein höhnisches stück widmete (Chicken Shit)

aber vor allem ist es mir ein persönliches anliegen, den maulwurf hinzufügen:

es gibt von den Residents die Mole Show (mit masken, aber ich hab das nie gehört). vor allem aber (Greil Marcus über) Bascam Lamar Lunsford, "I wish I was a Mole in the Ground" (#). hier ein recht hübsches YouTube-home-recording dazu.

Wish I was a mole in the ground,
Wish I was a mole in the ground,
If I's a mole in the ground, I'd root that mountain down,
Wish I was a mole in the ground.

Wish I was a lizard in the spring,
Wish I was a lizard in the spring,
If I's a lizard in the spring, I'd hear my darlin' sing,
Wish I was a lizard in the spring.

Wish I was a frog in the fall,
Wish I was a frog in the fall,
If I's a frog in the fall, I'd hear my darlin' call,
Wish I was a frog in the fall.

Honey where you been so long,
Honey where you been so long,
I been out on the bend, with the rough and rowdy men.
Honey where you been so long.

Wish I was a mole in the ground,
Wish I was a mole in the ground,
If I's a mole in the ground, I'd root that mountain down,
Wish I was a mole in the ground.

Wish I was a mole in the ground,
Wish I was a mole in the ground,
If I's a mole in the ground, I'd root that mountain down,
Wish I was a mole in the ground.

Honey where you been so long,
Honey where you been so long,
I been out on the bend, with the rough and rowdy men.
Honey where you been so long.

der song ist wirklich nicht in der offiziellen werk-liste, und ich selbst habe ihn erst spät bekommen und bisher selten gehört. der tonfall ist eindrucksvoll - einer dieser großen endlosen immer-weiter-von irgendwo-nach irgendwo-dylan-songs.

text-transkriptions-diskussion hier. interessant, als einstieg in die dylan-fanatikerdiskurse, die mich irgendwie nie interessiert haben. aber ich weiß noch gut, wie ich in meinem ersten semester begeistert Titzmanns Einführung in die strukturale Textanalyse an den baggersee mitnahm und damit Visions of Johanna dechiffrierte. als strukturalismus-fan aber, nicht wirklich als Dylan-fan. als solcher bin ich seinen texten eigentlich nur als singender am nächsten gekommen, und als ich mal versucht habe, zwei, drei songs in singfähige form zu übersetzen und dabei die untergründige stimmung irgendwie zu erhalten.

das dylan-spezifische ding passiert ja immer da, wo wort und gesang/phrasierung zusammentreffen und einen merkwürdig magischen mehrwert ergeben. und das ist gar nicht abhängig davon, ob der song versucht "große Lyrik" zu sein, oder sogar ist. oft scheint es auch für den sänger selbst unberechenbar. und andererseits gibt es eine menge großartiger Dylan-song-performances, in denen aber diese spezielle wort-musik-magie nicht passiert. (mittelmäßige und belanglose gibts auch ein paar. mit dem spätwerk kann ich erstaunlich wenig anfangen, was an der stimme zu liegen scheint.)

        

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