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jurij m. lotman (R.I.P.)
die grenzen des textes sind die grenzen der welt

 
sehr schöner mini-essay. ausgehend von billers ESRA, endet mit der preisung der juristischen sprache als epische bewältigung wirrer wirklichkeit.

"Ich war in diesen Jahren nach 2001 durch Probleme meines eigenen Schreibens in ein größeres REALITÄTS-CHECK-Projekt geraten und hatte zunächst mit Politik und Geschichte angefangen. Geschichte wurde an der Universität gelehrt, frühe Neuzeit von Heinz Schilling. Und die Politik wurde damals von Gerhard Schröder vorgeführt, die Macht des Körpers und seiner Sprache im Raum.

So ging ich in den Bundestag zu den Debatten, ins Kanzleramt zu den Pressekonferenzen, und schaute mir die reale Wirklichkeit des politischen Betriebs und der Berichterstattung darüber an, das Ganze also des politisch-journalistischen Komplexes.

Ergebnis: in echt ist alles etwa tausend mal interessanter und komplizierter, als in der medial vermittelten Darstellung davon erkennbar wird. Was folgt daraus? Eigentlich nichts, objektiv gesehen. Für mich aber: weitermachen mit der Wirklichkeit, auch wenn vorerst kein direkt brauchbarer Text dabei entsteht." ...

"Von der LEKTÜRE von Esra war ich gleich ganz begeistert. Das ist genau so einfach und klar dahererzählt, wie jeder bisschen kompliziertere Mensch gerne schreiben würde. Die Sprache, die Szenen, die Bilder, man folgt und liest, lebt mit und denkt nach, und die Nichtbanalität wäre in die Stimmungen ausgelagert, in Brüche, in Untertöne von Melancholie, auch Irrsinn des Geschehens, und das Bild des Ganzen würde so verworren gleichzeitig und einleuchtend erscheinen, wie man es aus der wirklichen Realität des eigenen Lebens nur zu gut kennt. Und Bücher sind sehr selten so. Esra aber war so.

Obwohl ich das Buch so toll fand, war ich der Meinung, dass Maxim Biller damit IRRT. Sein Weltbild ist falsch. Seine Sicht auf das Leben ist fundamentalistischer, essenzialistischer Unsinn, sein Blick auf die anderen Menschen grotesk egoman, und seine Vorstellungen von Liebe und zuletzt auch von der Kunst sind für mich forciert banaler Kitsch.

Aber, bitte: wenn man auf der Basis von so vielen falschen Ideen so gute Bücher wie Esra schreiben kann, was sollte da noch falsch an falschen Ideen sein? Vielleicht ja doch nur ihre Kritik, hier also ich."
a_plus_c meinte am 3. Nov, 13:25:
Lieber Juri,

da der Goetz-Essay unterdessen gelöscht wurde, ich ihn war gelesen hatte, aber sehr gerne wiederlesen würde, könntest du ihn komplett posten (falls du ihn gespeichert hast), oder, falls du das nicht möchtest, mir eine Kopie per Mail schicken? Das wäre sehr sehr nett.

Gruss,
Hans

esra-essay@mailinator.com 
jurijmlotman antwortete am 10. Nov, 19:12:
ja, habe ich noch im Google Reader gefunden. unterwegs per mail. 
jurijmlotman meinte am 10. Nov, 19:13:
esra-essay
In einem typischen Londoner Hotelloch stehend, klein, finster, stinkend, bekam ich abends, in hektisch aufgedrehter Stimmung, weil die Kunstmessekunst auf der Frieze Art Fair tagsüber so aufregend gewesen war und ich hier entsprechend aufgedreht meinen kleinen Hotelloch-Blogeintrag gerade fertiggeschriebenen hatte, die Nachricht am Telefon: Esra bleibt VERBOTEN. Das Verfassungsgericht hat so durch Beschluss entschieden. WAS?!, schrie ich, wieso, wie? Was heißt da Beschluss? Wieso kein Urteil? Und wann war die Verhandlung?
Ich hatte mir über all die Jahre hinweg die Prozesstermine in der Sache Esra angeschaut, war mehrmals nach München gefahren deswegen, war im Sommer 2005 in Karlsruhe gewesen, als der Bundesgerichtshof in Öffentlicher Sitzung über den Fall verhandelt hatte, hatte alle Schriftsätze in der Sache gelesen, die Urteil, Zeitungsartikel und Gutachten, zuletzt die 62-seitige Verfassungsbeschwerde des Verlags, es war bekannt, dass das Bundesverfassungsgericht den Fall zur Entscheidung angenommen hatte, und jetzt hatte ich doch eventuell tatsächlich den letzten Kulminationspunkt und letztentscheidenden öffentlichen Termin in dieser Sache durch irgendeinen blöden Zufall verpasst gehabt?
Verrückt: Es war jetzt also wirklich entschieden, nach vier einhalb Jahren. Das höchste deutsche Gericht hat gesprochen. Aber was genau hat es denn gesagt und seinen Spruch wie genau begründet? Auf Spiegel-Online war noch nichts Genaueres zu erfahren. Ich war in Eile, weil ich für einen abendlichen Termin bei Sotheby´s verabredet war, und fuhr mit der U-Bahn in die Innenstadt. An der Haltestelle Bondstreet wurden schon die Extrablätter ausgerufen: Esra verboten! Maxim Billers masterpiece verboten, the Kunstfreiheit vernichtet!

1

Maxim Biller hat mit Esra einen wahren ROMAN über die Gegenwart geschrieben. Er hat sich dabei stark an der Wirklichkeit einer eigenen Liebesgeschichte orientiert. Vor Gericht hat die ehemalige Freundin aus dieser Geschichte durch vier Instanzen hindurch ein Veröffentlichungsverbot des Buches erstritten. Die Zeitungen haben den spektakulären Fall über die Jahre hinweg mit viel Aufregung, aber auch sehr vielstimmig begleitet.
Vier große Sphären sind in dem Fall Esra auf dramatische Weise miteinander kollidiert: die Literatur, die Wirklichkeit, die Medien und die Justiz. Und erstaun-licherweise hat jede dieser Sphären auf ihre Art in dem Konflikt nicht nur für sich gewonnen, sondern auch bezogen aufs Ganze der Gesellschaft.

Am Anfang war der Knall, der BUZZ, der Lärm, den der Autor Maxim Biller so sehr liebt, wie die geistigen Vereinfachungen, mit denen er als Polemiker seit 20 Jahren punktet. Genau rechtzeitig zur Premierenlesung im Roten Salon der Berliner Volksbühne am 5. März 2003, einem Mittwoch, war das Buch gerade frisch verboten worden, durch einstweilige Verfügung vom 3.3.3. Buch verboten, Lesung verboten, Skandal der Literatur, Zensur durch die Justiz, herrlich. Natürlich war die Presse sofort entsprechend alarmiert und sorgte für einen öffentlichen Erregungslevel, der dem Buch Esra das schönste mediale Flirren schenkte: most wanted, now, sofort!
Am Tag nach der Lesung, bei der Maxim Biller aus irgendeiner anderen Erzählung gelesen hatte, konnte man das Buch in den großen Buchhandlungen Berlins, bei Hugendubel und Dussmann, schon nicht mehr kaufen. Leider verboten, hieß es, da würden wir uns strafbar machen, wir haben unsere Esra-Exemplare gerade weggeräumt. Ja natürlich, sehr gut, vielen Dank. Gehts vielleicht noch bisschen pedantischer? Wahrscheinlich nicht. Aber die kleine, gut sortierte Parlaments-buchhandlung im Jakob-Kaiser-Haus hatte das Buch da, ich kaufte es und fing sofort zu lesen an.

Von der LEKTÜRE von Esra war ich gleich ganz begeistert. Das ist genau so einfach und klar dahererzählt, wie jeder bisschen kompliziertere Mensch gerne schreiben würde. Die Sprache, die Szenen, die Bilder, man folgt und liest, lebt mit und denkt nach, und die Nichtbanalität wäre in die Stimmungen ausgelagert, in Brüche, in Untertöne von Sinnlosigkeit, auch Irrsinn des Geschehens, und das Bild des Ganzen würde so verworren gleichzeitig und einleuchtend erscheinen, wie man es aus der wirklichen Realität des eigenen Lebens nur zu gut kennt. Und Bücher sind sehr selten so. Esra aber war so.
Obwohl ich das Buch so toll fand, war ich der Meinung, dass Maxim Biller damit IRRT. Sein Weltbild ist falsch. Seine Sicht auf das Leben ist fundamentalistischer, essenzialistischer Unsinn, sein Blick auf die anderen Menschen grotesk egoman, und seine Vorstellungen von Liebe und zuletzt auch von der Kunst sind für mich forciert banaler Kitsch. Aber, bitte: wenn man auf der Basis von so vielen falschen Ideen so gute Bücher wie Esra schreiben kann, was sollte da noch falsch an falschen Ideen sein? Vielleicht ja doch nur ihre Kritik, hier also ich.
Wir trafen uns kurz danach bei einer Schaubühnen-Aufführung, und ich erklärte Maxim Biller was in Esra, nach meiner Ansicht, so sehr FEHLT: ein wirkliches PORTRÄT nämlich der geliebten Frau als erkennbares Gegenüber, zu sehr sieht man nur die Monomanie der Liebe des Adam, der Ich-Hauptfigur, Esra selbst bleibt nur ein Schemen. Deshalb hat sie sich jetzt auch, also die reale, lebendige und selber fühlende Person, die in der Wirklichkeit das Vorbild für die Figur Esra war, per Gericht und Medien in das Buch hineingeklagt. Wie toll ich das Buch fand, hatte sich Maxim Biller mit einer aktiv gebremsten Neugier angehört, er wollte da, ganz normal, nicht übertrieben komplimenthungrig wirken, aber meine Kritikgedanken ödeten ihn nach nur wenigen Sekunden sichtlich so maßlos, über alle Maßen maßlos, an, dass ich mich schnell entschuldigte, zu ausführlich geworden zu sein. Und mich noch schneller verabschiedete.

2

Das juristische Gefecht hatte inzwischen, medial begleitet, eine ziemliche Lärmqualität bekommen. Was juristisch aber genau vorging, wurde für mich als Laien nicht verständlich aus dem, was in der Presse darüber berichtet wurde. Die Schritte des Verfahrens, das Vokabular, die Regelungen, und immer wieder Fragmente dieser höchst seltsamen, überpräzisen Rechts-Begrifflichkeit: worum geht es da eigentlich genau? Das Recht: wie geht das?
Ich war in diesen Jahren nach 2001 durch Probleme meines eigenen Schreibens in ein größeres REALITÄTS-CHECK-Projekt geraten und hatte zunächst mit Politik und Geschichte angefangen. Geschichte wurde an der Universität gelehrt, frühe Neuzeit von Heinz Schilling. Und die Politik wurde damals von Gerhard Schröder vorgeführt, die Macht des Körpers und seiner Sprache im Raum. So ging ich in den Bundestag zu den Debatten, ins Kanzleramt zu den Pressekonferenzen, und schaute mir die reale Wirklichkeit des politischen Betriebs und der Berichterstattung darüber an, das Ganze also des politisch-journalistischen Komplexes.
Ergebnis: in echt ist alles etwa tausend mal interessanter und komplizierter, als in der medial vermittelten Darstellung davon erkennbar wird. Was folgt daraus? Eigentlich nichts, objektiv gesehen. Für mich aber: weitermachen mit der Wirk-lichkeit, auch wenn vorerst kein direkt brauchbarer Text dabei entsteht. Und also auch einsteigen, damals, von Esra geführt, in das RECHT.

Anruf bei Helge Malchow, Verleger von Kiepenheuer & Witsch, dem Esra-Verlag.
“Helge!, ich brauche diese Schriftsätze!”
Und HELGE MALCHOW schickte sie mir. Wir kannten uns seit etwa hundert Jahren. Die Vorsehung hatte es so gefügt, dass ich selber nicht Autor seines Verlages war, aber der Kontakt, man kann sagen: die Freundschaft, war über die Jahre auf relativ unübliche Weise stetig gewachsen. Wenn wir uns sahen, gab es sofort hoch-interessante literarische Debatten. Ich kannte niemanden im Betrieb so weit oben, der so viele verschiedene Bücher gelesen und vorallem wirklich selber bedacht hatte.
Denn das ist extrem selten in der literarischen Welt. Vor lauter öffentlichem Diskurs, der immer neu angestoßen, wahrgenommen, mit eigenen Beiträgen gefüttert werden musste, vor lauter Reisen, Entscheiden, Repräsentieren, kamen gerade die höheren Macher in den Feuilletons und den Verlagen kaum noch wirklich selber richtig zum Lesen und Denken. Denn das ist auch ein Preis der Macht normaler-weise: Verlust von Reflexion.
Anders, aus Gründen, die ich nicht kenne, bei Helge Malchow. Zu jedem Buch, über das wir redeten, kam durch das von ihm Gesagte irgendein verwirrend ausge-fallener, interessanter, so noch nicht gehörter Gedanke dazu. Und wie mir ging es wahrscheinlich vielen Leuten im Betrieb, gerne redet man mit Helge Malchow.

Die SCHRIFTSÄTZE kamen, und ich war hingerissen. Das war ja alles noch unendlich viel schöner, so erzählt, als in Maxim Billers Roman Esra selbst. Das war Kafka für heute, das war die wahre Literatur. Die Sprache des Rechts ist eine der ultimativen Präzision, weltgerichtet, weltbesessen muss man sagen, und tiefengesteuert her von den letzten Fragen des Zusammenlebens der Menschen miteinander. Dass die besten, wichtigsten, erfolgreichsten Schriftsteller so oft Juristen gewesen sind: ja klar. Lies keine Oden, Jüngling, lies die Prosa unserer Gerichte.
Auch die Verfahrensweisen des Rechts, die Instrumentarien der Konfliktführung haben den leuchtenden Glanz uralter, zugleich hochaktuell dauernd benützter Vernunft, die herrlich abgekühlte Hysterie der maximalen KLARHEIT. Als wirrer Mensch der Literatur, deren Wirrheitsqualitäten ich als DJ Wirr immer auch vertreten und gefördert habe, konnte einem all das plötzlich als das Allerschönste vor-kommen, als das Unerreichbarste.

DREI VORGÄNGE bestimmten die ersten Monate des Esra-Prozesses: 1. die Einstweilige Verfügung; 2. die außergerichtlichen Vergleichs-Versuche; und 3. der eigentliche Prozess über das beantragte Verbot des Romans.
Weil die drei getrennten Vorgänge in ihren Einzelschritten gleichzeitig und durcheinander abliefen und in verschiedenen Instanzen jeweils andere Zwischen-resultate dabei entstanden, konnte man aus dem damaligen medialen Echo nicht richtig schlau werden: Esra verboten, Verbot aufgehoben, Buch erneut verboten. Ja warum denn? Wie denn, was denn? Die Juristen unter den Journalisten haben es leider praktisch aufgegeben, wohl aus Enttäuschung über das mittlere Desinteresse der meisten mittleren Kollegen, ihren Lesern die rechtlichen Dinge in ihrer wirklichen Kompliziertheit nahe zu bringen.
Oder vielleicht ist es auch einfach so, dass man sich die Dinge, die einen zufällig gerade interessieren, eben selber klar machen muss. Und so beschloss ich also, das Recht und seine Welt ein bisschen zu studieren. Ich kaufte mir die Gesetzestexte, die Kommentare und Lehrbücher, fing zu lesen an und schaute mir die Prozesse vor Gericht mit eigenen Augen an.

3

Am 20. August 2003 war für den Fall Esra in München die erste Verhandlung in der sogenannten HAUPTSACHE angesetzt. Zu den Gerichten gehen heißt: eine Adresse haben, hier Landgericht München I, Prielmeyerstraße 7, Lenbachplatz 7, und die Nummer eines Sitzungssaals wissen, Saal 301, 13 Uhr. Mit diesen Daten irrt man dann in der Welt herum. Mein Wecker hatte um vier in Berlin geläutet, um acht Uhr war ich in München gewesen, es war ein Mittwoch, jetzt stand ich im großen Münchner Justizpalast, leider falsch, die für presserechtliche Fragen zuständige 9. Zivilkammer tagt auf der anderen Seite des Lenbachplatzes, in der sogenannten Neuen Maxburg. Danke für die Auskunft.
Vor dem Café im Innenhof des Lenbachblocks saß Helge Malchow im Freien. Er stellte mir den neben ihm sitzenden Rechtsanwalt Dr. Sven Krüger vor. Es war jener unfassbar heiße Jahrhundertsommer 2003, wochenlang war es über alle Maßen heiß und ununterbrochen so heiß, und die Menschen hatten dauernd ihre leuchtend weißen Hemden an, oben offen, und das Jackett abgelegt. Eine erstaunlich luftige Eleganz war im Inneren des schattigen 50er-Jahre-Gerichtsgeäudes zu spüren, Sep Ruf, der König der damaligen BRD-Moderne, hat es erbaut.
Pünktlich um 13 Uhr eins ging es oben im Gerichtssaal los. Sofort verwirrend und beeindruckend: die strenge Choreographie der Form, die Formelhaftigkeit der sprachlichen Verfahrensliturgie. Eröffnung der Verhandlung, Begrüßung der erschie-nenen Beteiligten und damit Feststellung ihrer Anwesenheit, Austausch neuester Schriftsätze, kleine erste Wortgefechte zwischen den Parteien. Dann redete der Vorsitzende Richter Dr. Steiner, von einem zweiten Richter und einer Richterin flankiert, und fasste den Stand der Auseinandersetzung aus Sicht der Kammer, wie er das nannte, zusammen. “Wir gehen jetzt hier in die zweite oder dritte Runde”, sagte er.

Damit war der bisherige Prozess über die EINSTWEILIGE VERFÜGUNG gemeint. Einstweilige Verfügung heißt in diesem Fall: Esra war sofort und eben provisorisch verboten worden. So war dafür gesorgt, dass der fragliche Anspruch der Klägerinnen auf ein Verbot des Buches solange vorläufig gesichert bleibe, bis wirklich entschieden wäre, ob er berechtigt sei. In diesem Verfahren hatten zwei Termine stattgefunden. Das Landgericht hatte im April die von ihm selbst im März erlassene Verfügung durch Urteil bestätigt, dieses Urteil jedoch war von der Berufungsinstanz, dem 21. Zivilsenat des Oberlandesgerichts, nach einer Verhand-lung Anfang Juli sensationellerweise Ende Juli aufgehoben worden. Das Urteil im Namen des Volkes stellte fest: der Antrag auf Erlass einer einweiligen Verfügung wird zurückgewiesen.
Dieses Urteil war in der Presse als ein vielversprechender Zwischensieg für die Freiheit der Kunst gewertet worden. Das Buch Esra war jetzt nicht mehr vorläufig verboten. Und der Verlag sah sich in seiner Überzeugung bestätigt, Esra wieder veröffentlichen zu dürfen. Das Neuerscheinen einer sogenannten geweißten Fassung von Esra wurde in eben diesen Augusttagen der heutigen Verhandlung vorbereitet. Die Klägerinnen hatten ein Angebot der Verlagsseite angenommen, bestimmte Begriffe und Ortsnamen künftig aus dem Text des Romans wegzulassen. Aber auch gegen eine solche abgeschwächte Fassung wollten sie, so hatten sie angekündigt, weiter vorgehen.

Jetzt erklärte der Vorsitzende Richter zur aktuellen Kernfrage der Auseinander-setzung: “Wir halten die Erkennbarkeit der Klägerinnen nach wie vor für gegeben.” Dagegen wehrte sich für die Seite der Beklagten, den Verlag, der Rechtsanwalt Krüger, etwa 42, groß, markant, und von einer vibrierenden geistigen Energie beim Reden.
Plötzlich war die Brisanz des Streits im Saal präsent: die Klägerinnen sind NICHT erkennbar, ihre Persönlichkeitsrechte werden NICHT verletzt, eine fiktive Intimsphäre gibt es NICHT, dieser Roman darf NICHT verboten werden. Die Rede des Anwalts war drängend von ihrer Richtigkeit überzeugt, dabei zugleich kühl argumentierend, es war in der stark abgedämpften Atmosphäre der bisherigen Verhandlung hier ein leuchtender Moment der Heftigkeit des Lebens von draußen. Ein Verbot von Esra wäre furchtbar.
Nach nur einer Stunde war es vorbei. Drei, vier Presseleute und ein paar andere Zuschauer standen draußen noch kurz zusammen und beredeten das Ergebnis. Die Kammer hatte sich während der Verhandlung gar nicht richtig auf die grundsätzliche Dimension des Rechtsstreits und der Argumente von Rechtsanwalt Krüger eingelassen. Die entscheidenden Fragen, wie Realität und Fiktion sich im Roman aufeinander beziehen und wie der Roman dann wieder auf die Realität zurückwirkt, waren in der Verhandlung selbst nicht wirklich befriedigend gründlich zur Sprache gekommen.
Die Erstinstanz ging also, so der enttäuschende Eindruck aus der mündlichen Verhandlung am 20. August, mit einer äußerlich quasi absichtlichen Hemdsärm-ligkeit vor: keine übertrieben verstiegenen Grundsatzerwägungen. Das sollen die höheren Instanzen, die mit der Sache sicher noch befasst werden, später leisten.

4

Wahrscheinlich war es in diesen Tagen im August 2003, dass der Streit um Esra sich endgültig verhärtet und im absolut Unversöhnlichen festgefahren hat. Beide Parteien waren so felsenfest davon überzeugt, so sehr im Recht zu sein, dass sie zuletzt bestimmt auch diesen Rechtsstreit ganz formal vor den Gerichten letztinstanzlich für sich gewinnen würden. 
a_plus_c meinte am 11. Nov, 19:03:
fantastisch! vielen vielen dank!!
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