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jurij m. lotman (R.I.P.)
die grenzen des textes sind die grenzen der welt

 
... zufällig habe ich bemerkt, dass das Schröder-Blair-Papier vom 8. Juni 1999 stammt: 10jähriges Jubiläum!

weil sich kaum jemand erinnern wird: das war das strategiepapier, inhaltlich eher von Blair stammend, das eine neue sozialdemokratie proklamierte, als konsequenz daraus, dass die alten muster nicht mehr auf die neue soziökonomische welt passen. so weit, so richtig. was dann vorgeschlagen wurde, war natürlich grausam: "wettbewerb" und "markt", übernahme neoliberaler phrasen, geist der dotcom-bubble plus SAP-effizienz-globalkapitalismus. Internet erwähnt, vor allem wegen der einkaufsmöglichkeiten.

und trotzdem: so scheußlich das war und ist, es war eben doch ein schritt in die richtige richtung. wir müssen das lesen, und erst dann verketzern, nicht schon von vornherein, auch wenn ich den reflex gut verstehe. es ist ja wahr, dass wir mit den alten gut gemeinten retro-linken positionen nicht recht weiterkommen.

Mercedes Bunz hat irgendwann was interessantes zu "linkem neoliberalismus" geschrieben, im zusammenhang mit der re:publica vor 2 jahren, glaub ich, aber ich finde den text nicht mehr. (BTW, der mündliche girlie-habitus und -tonfall von Frau Bunz stößt mich merkwürdig ab. neuere weibliche intellektualität muss sich doch auch anders anhören können.)

wohlgemerkt: ich will keinen linken neoliberalismus. sozialdemokratische kernziele sind natürlich solidarität, hilfe für benachteiligte, die sich nicht in almosen erschöpft, und soziale gleichheit (nicht windelweiche "gerechtigkeit"). trotzdem: der sozialstaat der 1970er jahre kommt nicht wieder. es wird ungemütlich. Marx allerdings hätte damit wohl kein problem gehabt: kein zweifel, die widersprüche werden sich zuspitzen.

ich habe also das 10jährige jubiläum zum anlass genommen, das SchröderBlairPapier einfach mal beim durchlesen zu verbessern. die argumentation und 90% des textes sind beibehalten, einiges wurde umfromuliert, ein paar sätze ergänzt. der resultierende Lindner-Schröder-Blair-Papier-Remix ist keine satire, sondern ein erkenntnisförderndes laborexperiment, und kann hier gelesen und ausgedruckt werden.

im folgenden nur ein paar herausgelöste ausschnitte, die von mir neu hinzugefügt bzw. stark umgebogen wurden. lustiger ist es imkontext des originals ...

"... Aber wahr ist auch: Das Festhalten an staatlicher Hilfe für Benachteiligte als universalem Lösungsmuster für alle Probleme des fundamentalen gesellschaftlichen Umbruchs, in dem wir stehen, ist allein keine ausreichende Grundlage für zukunftsorientierte linke Politik. Das ist der Kurs von "Die Linken": Sie sind de facto eine Lobby für die Modernisierungsverlierer. Daran ist eigentlich noch nichts Falsches, denn die anderen gesellschaftlichen Interessen haben ihre eigenen egoistischen Lobbies. Das Problem ist, dass Lobbyismus, auch wenn er berechtigt ist, längerfristig nicht politische Konzeptionen ersetzt.


"Um diese Werte für die heutigen Herausforderungen relevant zu machen, bedarf es realistischer und vorausschauender Politik, die in der Lage ist, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu erkennen. Modernisierung der Politik bedeutet nicht, auf Meinungsumfragen zu reagieren, sondern es bedeutet, sich an objektiv veränderte Bedingungen anzupassen." (original)

Eigentlich müssen wir wieder auf Marx zurückzugehen: Wir müssen den Kapitalismus im digitalen Zeitalter analysieren, um ihn besser zu verstehen als die Kapitalisten selbst. Wir müssen die Eigendynamiken und Binnenlogiken herausarbeiten, die sich ausnutzen lassen, um für eine neue emanzipatorische, solidarische Bewegung Schwung zu gewinnen.

Wir müssen unsere Politik in einem neuen, auf den heutigen Stand gebrachten wirtschaftlichen Rahmen betreiben, innerhalb dessen der alte Gegensatz wie auch das alte Zusammenspiel von "der Staat" und "die Wirtschaft" überwunden ist. Das alte Spiel funktioniert nicht mehr. Das neue Spiel, das gerade entsteht, haben wir noch nicht verstanden. Niemand hat es bisher verstanden.

Die Rolle von "Märkten" muss völlig neu überdacht werden. Markt ist nicht Markt. Der Markt als ein System, um kreative Unordnung zu organisieren und kollektive Lösungen auf sozialen und gesellschaftlichen Bedarf zu finden, ist nicht dasselbe wie der "Markt" des globalen Finanzkapitalismus oder der "Markt" von staatlich subventionierten Großtechnologiekonzernen.

Politik kann gesellschaftliche Rahmenbedingungen setzen und sie kann auch gesellschaftliche Aufmerksamkeit und gesellschaftliche Energien auf neuralgische Punkte lenken. Leider hat hier Politik in den letzten 10 Jahren auf der ganzen Linie versagt, die Sozialdemokraten eingeschlossen.

Die Steuerungsfunktion von Märkten muß durch die Politik ergänzt und verbessert werden, kann aber nicht durch Politik ersetzt werden. Politik ist immer nur eine gesellschaftliche Kraft unter mehreren. Was aber eine "linke Marktwirtschaft" sein könnte, müssen wir klären.

Wir müssen unsere Politik stärken, indem wir unsere Erfahrungen austauschen, aber auch mit den Gleichgesinnten in Europa und der übrigen Welt. Insbesondere auch mit denen, die sich seit 10 Jahren im digitalen Raum organisieren.

Mit diesem Appell wollen wir alle, die unsere Modernisierungsziele teilen, einladen, sich an unserer Diskussion zu beteiligen.

..."
        

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