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jurij m. lotman (R.I.P.)
die grenzen des textes sind die grenzen der welt

 
... Roadrunner Roadrunner. Material zur Beantwortung der Frage, warum ein Track groß sein kann, jenseits von Radikalität (ganz anders/lauter/wilder ... als alle zuvor) und jenseits von Geschmack (wohlabgewogene Zutaten). Tatsächlich im nächtlichen Nichts-Arbeiten-Können-Frust die Greil-Marcus-Beschreibung des gleichnamigen Garagen-Pop-Klassikers abgeschrieben. Zu lang für ein Blog, eigentlich: Pop ist nicht Microcontent genug. Und die deutsche Übersetzung ist schlecht.

"Wie Richman ihn schließlich aufnahm, war ‚Roadrunner’ der simpelste und der merkwürdigste Song der Welt. … Das Stück erblickte auf einem ansonsten belanglosen Sampler lokaler Bands das Licht der Welt, und von dem Augenblick an war es ein Klassiker. Nichts hätte bescheidener sein können: am Anfang lediglich Bass, Snare drum und Gitarrengeschrammel, und es hörte sich an wie das Stimmen der Instrumente auf einer Sun Records Platte von 1954, kombiniert mit einem Velvet Underground-Demo von 1967.

„One, two, three, four five, six.“ One, two / a-One, Two, Three, Four lautete der traditionelle Rock’n’Roll-Anfang. 1976/77, als Punk loslegte, wurde das trockene “One - two – three – four” zum Markenzeichen. Punk warf mit dem einleitenden One-two jedes Vorgeplänkel, jede Geschichte über Bord. Wenn Richman 1975 „five-six“ hinzufügte, bedeutete dass eine Verzögerung: Er war noch nicht so weit, er atmete noch einmal tief durch.

Und dann, beinahe (aber eben nur beinahe) mit der Stimme eines Teenagers, der an der freudigen Erinnerung des vorigen Tags fast erstickt, fing Richman an, seine Spritztour durch die Provinz von Massachusetts zu beschwören. Er fuhr zwar am Stop’n’Shop vorbei, aber um ganz sicher zu gehen, GING er zuerst am Stop’n’Shop vorbei, wobei er zu dem Schluss kam, dass er doch viele lieber am Stop’n’Shop vorbei FUHR, als am Stop’n’Shop vorbeizugehen, und zwar nicht zuletzt, weil er das mit eingeschaltetem Radio tun konnte ...

Von jetzt an verfiel Richman zuerst in Entzücken, dann in Trance: Er fühlte sich in touch with the modern world, er fühlte sich in love with the modern world, er fühlte sich like a roadrunner. Er verließ Boston in Richtung Route 128, alles war möglich. Er machte das Radio an und hörte 1956: It was patient in the bushes just like '57. Die Band legte dazu James-Brown-mäßig los, dann nahm sich Richman zurück wie Jerry Lee Lewis in der Mitte von Whole lotta shakin’ goin’ on. Die zuerst laut verkündete Botschaft wurde nun geflüstert, nachdenklich, unheimlich. Er fuhr auf der Route 128. Es war kalt, dunkel, er roch die Fichten, er hörte sie, als er vorbeibrauste, das Radio eingeschaltet. Und er erhaschte einen Blick auf das Neon, das sogar noch kälter war – die moderne Welt, nach der er suchte.
[…]
Richman atmete noch einmal tief durch … und immer, wenn ich die Aufnahme anhöre, muss ich lächeln bei dem, was dann kommt. Jede Phrase aus dem Song, die allereinfachste Wiedergabe einer Erfahrung, die Millionen Menschen in irgendeiner pubertären Nacht gemacht haben, wird zerhackt und neu erschaffen. Jede Formulierung auf einzelne Worte reduziert, jedes Wort herausgepellt, Strophe und Refrain zu einer schamanistischen Suada zerhackt, der intakt gelassene Refrain kämpft, um mit dem unberechenbaren Rhythmus der Leadstimme irgendwie zu Rande zu kommen, was ihm irgendwie gelingt, auch wenn die Wörter inzwischen kaum mehr Wörter sind, nur noch Reklametafeln, die so schnell vorbeihuschen, dass man sie nicht lesen kann. Immer schneller:

The sound of the modern radio, feelin when its late (RADIO ON! ruft die Band) at nite we got the sound of the modern lonely when its cold outside RADIO ON! got the sound of Massachusetts when its blue and white RADIO ON cause out on Route 128 on the dark and lonely RADIO ON! I feel alone in the cold and lonely RADIO ON I feel uh I feel alone in the cold and lonely RADIO ON! I feel alive I feel a love I feel alive RADIO ON! I feel a rockin modern love I feel I feel a rockin modern life RADIO ON! I feel a rockin modern neon sound modern Boston town RADIO ON! a modern sound modern neon modern miles around RADIO ON! I say a roadrunner once a roadrunner twice RADIO ON! ah ah very nice roadrunner gonna go home now yea RADIO ON! roadrunner go home oh yes roadrunner go home …

Durch einen reinen Gewaltakt reduziert er das Tempo. Die Rückkehr zu einer konventionellen Rockmelodie markiert das gewaltsame Erwachen aus dem Traum. „Her we go now / We’re gonna drive him home, you guys / Here we go …” Und die Band prügelt wieder den Riff, zweimal drei Mal, zweimal vier Mal, und dann: "That’s right!" --- (Lärm) --- "Again!" --- (Lärm) --- "Bye Bye!" Es handele sich, so Marcus, der in Fachkreisen als Kapazität in diesen Fragen gilt, um den besten Schluss der Rockgeschichte.
assotsiationsklimbim meinte am 9. Feb, 20:55:
und bei der roadrunner-version, die ich runtergeladen habe, fehlt genau der anscheinend beste refrain. dafür habe ich eine nummer (angeblich mit den sex pistols) namens "in love with rock and roll" aufgetrieben, mit dem selben refrain. schöner krach, das.

nur irgendwie, so sehr mir roadrunner zwar gefällt, sehe ich den marcus-text eher als beispiel, wie man könnerhaft etwas sehr groß finden und betexten kann, und nicht dafür, wie etwas für sich groß ist. obwohl das letztlich wohl das selbe ist, und "groß" nie absoluter gelten kann als für die bestimmten leute für die bestimmte zeit groß. 
jurijmlotman antwortete am 11. Feb, 15:13:
sex pistols ...
... in wahrheit beschreibt marcus ja zuerst genau diese pistols-übungsraum-version, die ich nicht kenne und mangels recherche-fähigkeit auch nicht im web finden werde. dass so ein text einen track erst groß macht: das stimmt schon. aber so ist das mit kunst: dass einem etwas auf anhieb im richtigen moment begegnet und sofort all seinen reichtum entfaltet, ist ja sehr selten. und etwas, dass sich so beschreiben lässt, IST (auf irgendeine weise) groß. glaube ich. 
assotsiationsklimbim antwortete am 13. Feb, 10:24:
nein, eben genau die marcus-beschriebene version ist das auch nicht, aber ich halt mich weiter ran und suche.

ansonsten befürchte ich, dass es sicher auch leute gibt, die einen sportfreunde stiller song so beschreiben könnten, dass man meint, er sei groß. nur würden die das sicher nie tun, also ist wohl wirklich groß, was tatsächlich auch so beschrieben wird. 
jurijmlotman antwortete am 13. Feb, 13:00:
was ich an marcus mag: dass und wie er musik als, äh, "performativen akt" beschreibt. als etwas, das passiert und aufgezeichnet wird. und dann das extreme herausvergrößern von details.

ich habe ja auch erst hinterher jetzt die single wieder gehört und digitalisiert, und natürlich wundert man sich dann sofort. aber man kann sie so hören wie er es tut. wobei auf meiner single 2 versionen sind, eine eher geschrammelte (offenbar wirklich die von ihm beschriebene) und eine lärmende (die ich, mit holzhammer-geschmack geschlagen, immer vorgezogen hatte). was ich mir beim lesen vorstelle, ist eher eine überblendung von beiden versionen, aber die gibt es gar nicht.

sportfreunde stiller: ich kann mir zur not schon noch vorstellen, dass jemand sprachgewaltiges da das etwas dödelige und überständig-regressive-pubertäre pop-lebensgefühl glorifizieren kann. aber sicher nicht in dem sinn als "kunst", wie es marcus mit richman (und dylan) macht ... 
assotsiationsklimbim antwortete am 14. Feb, 13:14:
'sportfreunde' meinte ich nur als beispiel für 'schlechte musik, die oft in kontexten vorkommt, wo sie leicht mit mittelmaß verwechselt werden kann''. ansonten zu allem und ohne vorbehalte: ja.

heute übrigens auch gute blumenau-story zu pop und schlager, paßt ja irgendwie im weitesten sinne auch hierher, oder eben in den allgemeinen endlos-threat: was ist schlager/was ist pop/wer sind die guten. 
        

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