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jurij m. lotman (R.I.P.)
die grenzen des textes sind die grenzen der welt

 
Brinkmann will die Frage, wie Schreiben und Leben zusammenhängen, immer neu aufsprengen und zur Explosion bringen, wie es immer wieder in dem Tagebuch heißt, das ja das „Gefühl für einen Aufstand“ erkunden will. Er will die erstarrten Lebenszusammenhänge aufsprengen, er will die starre Schriftsprache aufsprengen und er will vor allem alle konventionellen (auch die konventionell ‚avantgardistischen’) Beziehungen zwischen ‚Leben’ und ‚Schreiben’ aufsprengen. Aus diesen Sprengungen gewinnt er dann neue Energie, die sein Schreiben weiter antreibt, und so fort.

Diese Beschreibung der Brinkmannschen Texte als Kraftwerk ist keine feuilletonistische Verzierung, die von außen an sie herangetragen wurde. Brinkmann entwickelt diese für ihn zentrale Metaphorik selbst. Die bewußte „Schnitt“-Technik soll eben verhindern, dass die in der alltäglichen Erfahrung kollidierenden Wirlichkeitselemente einfach nur ausbrennen wie ineinandergefahrene Autos. Sie soll die „Wirklichkeit hochgehen“ lassen:

Wörter sind Projektionen! Sie müssen explodieren! (1987: 24)

Die zerlegten Augenblicke und die zertrümmerten Sätze und Bedeutungen entbinden die Energie, die in ihnen steckt. Es geht darum, „Energien zu befreien und für sich in der Gegenwart nutzbar zu machen“ (1979: 447). Das Modell dieses Prozesses ist die Atomenergie:

Einzelne Bilder prallen in mir aufeinander, wie Atome, und dann lösen sie ganze Ketten von aufflammenden Bildern aus (1987: 259)

Und diese Energiegewinnung funktioniert in doppelter Richtung: Aus dem Schreiben werden Energien für das Leben gewonnen, aus dem Gehen durch die Wirklichkeit Energien für das Schreiben. Analog zu einer „Kette explodierender Augenblicke“ (124) im Bewußtsein entsteht so der Text als eine Kette explodierender Wörter.

Das Resultat der explosiven ‚Schnitt’-Technik ist also so etwas wie ein atomar angetriebener Film. Es ist kein Zufall, dass Brinkmann von Allen Barons Blast of Explosion schwärmt, einem bösen, kalten Film, dessen Protagonist ein absolut einsamer Profi-Killer ist. Mit diesem Film verbindet sich die Erinnerung an

: Stunden an intensivem Alleinsein/: Stunden intensiver, reißender Blicke (1987: 227)

Folgerichtig wird erwogen, den erträumten Roman wie einen Film zu aufzubauen:

Einfall zur Technik des Romans: exakt nach Filmtechniken arbeiten, mit Rückblende, Überblendung, Szeneneinfärbung, Schnitte, Gegenschnitte, Ton gemischt, ausgefilterten Geräuschen, Gesamtszenen und Details, Schwenks, Rundschwenks usw. (261)

Tatsächlich ist aber der eigentliche „Film in Worten“, den Brinkmann ja schon 1969 im Nachwort zu ACID forderte, nicht ein Roman, sondern der Tagebuchtext selbst: ein dokumentarisches Road Movie, orientiert am Western, denn „Gegenwart ist Wild-West-Bewußtsein“ (208). Nicht zufällig verfolgen dieses Ideal zur selben Zeit auch Handke und Wenders, wenn auch ein Brinkmann-Film natürlich sehr viel greller und aggressiver ausgefallen wäre als Der kurze Brief zum langen Abschied und Im Lauf der Zeit.

Schreiben ist wie Filmen, das trifft Brinkmanns eigentliche Intentionen am besten: Die Wirklichkeit ist ein Sex- und Horror-Film, dem man hilflos ausgesetzt ist, wenn man nicht hinausgeht und das fremde Material zum Material seines eigenen Films umfunktioniert. Man sammelt in der Wirklichkeit draußen auf einer Bild- und einer Tonspur dokumentarisches Material, man schneidet es auseinander- und anders wieder zuammen, man sucht einen eigenen Rhythmus, um die „Kette aus einzelnen Blitzlichtfotos“ (145) in dynamische Bewegung bringen - und am Ende steht dann der fertige eigene Film, den man immer wieder selbst ansieht, bis das Bewußtsein ganz ausgefüllt ist von den eigenen Bildern und ganz im eigenen Rhythmus schwingt.
        

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