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jurij m. lotman (R.I.P.)
die grenzen des textes sind die grenzen der welt

 

goetzblog

erstaunt, wie sehr Handkes "diaristische notizen" für mich durch die stimme gewinnen, oder überhaupt erst als projekt unmittelbar verständlich sind. wobei diese große stimme eben erst aus text neu gewonnen wird. aus text, der die realwelt des dauernd weltreisenden zum anlaß für notizen benutzt, die würdevolle augenblicke festhalten, oder eher, sie immer aus irgendwelchem material erst herstellen, für die textwelt, nicht für die reale körperwelt.

wiederholbarkeit und objektivierung: dass die stimme selbst dadurch, dass ich die stelle nochmal hören kann, texthaft ist, und trotzdem ganz anders. was wäre, wenn die nicht gespeicherte stimme stattdessen immer sofort spurlos verhallen würde. (wie bei autorenlesungen? aber dort habe ich solche stimm-epiphanien eigentlich fast nie gehabt, d.h. ein wenig vielleicht bei rosei, und das waren ja auch "reisenotizen".)

(wie der seltsame effekt damals bei dem halbstündigen zapping-videoband: dieselben fetzen nochmals sehen, und feststellen, wie sehr jedes sinnlose detail als text gespeichert ist, irgendsoein schwimmwettbewerb, oder die namenlose US-serie in der irgendwelche frauen am lagerfeuer über eheprobleme sprachen.)

dass ich eigentlich einen größeren goetz'schen notizen-text, der so handkisch verfremdet und abstrahierend auf die zivilisatorisch-medialen mikro-ereignisse reagiert, momente von text-würde daraus gewinnt, sehr gern lesen würde. in den besten momenten von "Klage" ist das ja so.

auch weil ich gerade Handkes gelesene "Gestern unterwegs"-Notizen 2 stunden lang im auto gehört habe:

"Auf der Suche nach einer nichtlächerlichen Autorposition hatte Lt. Kyritz zuletzt bei Strauß und Handke haltgemacht. Nichts war unsympathisch gewesen ursprünglich an deren Idee der radikalen künstlerischen Existenz. Im Geist der Schrift aufzugehen und als Körper aus der Realwelt zu verschwinden: solange das eine Sehnsucht ist, kann es den kunstadäquaten Fundamentalismus der Schöpfung mit produktiven, hysterisch abstrakten Energien versorgen und vitalisieren.

wie lange aber kann ein Mensch
in einer solchen Extremposition überleben?

... zu viel Solipsismus, der durch Überpräsenz des Körperlichen, Sexuellen, Kollegialen und Betrieblichen sehr verständlicherweise ursprünglich getriggert worden sein konnte, führte die Autoren später, so auch Handke und Strauß, immer tiefer in die falschen Wälder des Rückzugs, die Stille der Natur, das Reden mit Pilzen und Bäumen. Das ist schlecht. Es gefährdet die Literatur von innen her auch, wenn das reale Kontaktmedium mit anderen Menschen, die Sprache als Instrument komplizierter Dispute und Auseinandersetzungen, zu wenig alltäglich zum Einsatz kommt. "

Nein und Ja. Schwierig. So wenig ich diesen Rückzugs-Konservatismus gutheiße, so scheinen doch bei beiden, Handke & Strauß, die diaristischen Text-Engines wesentlich differenzierter als die dazu geäußerte Ideologie. Wie also kann man statt bzw. zusätzlich zu "poetischen Eindrücken" andere Splitter der Außenwelt, gerade der medialen und supermodernen, in den Dienst nehmen, um die Kettenreaktion der Schreib-Ereignisse in Gang zu setzen & zu halten? Ohne dabei auch in diese geschmackvolle Blog-Ästhetik der Fotos aus der Alltagskultur zu verfallen, die mich irgendwann an anderer stelle unten in diesem Blog bei (guten) antville-Leuten gestört hatte?

"Es war schwülheiß, der Himmel zugezogen, und ein Vater, 46, ging mit Tochter, 10, auf dem Gehweg dahin, ganz verstrickt ins Leben, das ihm sich zugelost hatte, halb zufällig, aber natürlich auch durch paar minimale eigene Entscheidungen mitgewählt."

"Schreiben, notierte ich, ist ja Rücknahme des Gesagten, Korrektur am Gedachten, Widerspruch zu sich selbst. Man kann fast sagen: das Gegenteil zum Reden im Gespräch" ...

"Dabei ließ sich gut verfolgen, wie das fluoreszierende Element zukünftiger Möglichkeiten in schnellen Zufallsbewegungen an der Kette der Gegenwartsmomente nach der genau passenden Bindungsstelle solange suchte, bis es die richtige Stelle gefunden hatte, dort haften blieb, dadurch die von da abzweigenden Entscheidungen auslöste und so mit ihr die Folgekaskade der davon bedingten kommenden Lebensfolgen."

... (deutsch blogge ich im moment ja nur, wenn ich goetz lese. das hier ist ja zuständig für: literatur und aging-of-pop, und goetz ist beides, und zugleich repräsentant meiner diesbezüglichen seiten. englisch blogge ich auch nicht. nur twitter, und eigentlich möchte ich jetzt endlich das fällige buch über die media-welt und die media-identität und den media-bedeutungsraum im Web 2.0-kontext schreiben. ich habe allmählich das gefühl, dass es ginge, gedanklich und schriftstellerisch.)

"Seltsam ist es immer wieder, wenn man es erlebt: die Jungheit und Neuheit jedes mitgeteilten Gedanken, auch des ältesten, wenn er nur auch wirklich gerade neu nocheinmal neu gedacht wird. ... Warum Denken lächeln macht, Traktat. ... Die Videoblogs sind eine echte Revolution. Die Leute stellen sich in einer Direktheit und Nacktheit vor einen hin, dass man erschrickt und staunt, man befindet sich ja etwa nur 20 Zentimeter weit weg von ihnen. Dagegen war Fernsehen, die alte Nacktmaschine, ein Medium höflichster Diskretion. Das Internet hat in seiner Vertrashtheit beides radikalisiert: die Bilder und die Schrift. Die Schrift will denken, die Bilder physische Präsenz vorweisen. "

"Nichts ist so interessant wie die gestrige Zeitung, im Gegensatz zum bekannten Diktum, und das Gestern kann sein das von vorgestern, von vor zwei Jahren, zwei Monaten, vier Wochen oder mehreren Jahren. Drüben im Büro lagern noch ganze Kartons von den Berliner Seiten der Faz, sie fungieren da als Kommode im Gang, werden irgendwann aussortiert und gesichtet werden. Dabei ist das Interesse völlig unnostalgisch, es geht um die geistige Struktur von Aktualität, in Interferenz von öffentlicher Kommunikation und individuellem Bewusstsein."

wobei mir auffällt, dass mein metier seit jeher eher das geisterhaft "gedruckte Wort" war und ist, dass ich mit dem endgültig gedruckten Schwarz-auf-papier noch nie eine besondere faszination verband, dass meine art der textanalyse immer eine verflüssigung des gedruckten beinhaltete, dass also das digitale Skywriting in den lichtraum mir von anfang an entsprach. weshalb ich auch keine spuren hinterlassen werde. weshalb mich die gedruckte medien-szene eigentlich gar nicht mehr innerlich bewegt. als ob die kraft aus diesen medien gewichen sei.

"In vielen Blogs wird jetzt die grundlegende Erfahrung des Schreibens gemacht, dass das vom eigenen Erleben berichtende Schreiben solange gut geht und gut klingt, welteröffnend und erfahrungsbildend wirkt, solange die Ichfigur sich selbst und ihrem Berichten gegenüber eher blind bleiben kann. Resonanz, Reaktionen, Kommentare stören diese Selbstunsichtbarkeit, zerstören das Automatische, das selig Textmaschinenhafte, das das Schreiben anfangs haben kann."

glaub ich nicht recht. blogs, wie ich sie kenne, sind eher nicht selbstvergessen, und bestehen ja eben nicht einfach aus "vom eigenen Erleben berichtenden Schreiben". auch bei den normalos sind das eher ziemlich auto-reflexive "selbst"-konstruktionsmaschinen, und zwar erstaunlich selten im blöden sinn von posing.

das resultierende selbst ist eigentlich immer irgendwie interessant, weil eben halb-bewusst aus text gebaut: relativ abstrakt und stark elliptisch. eine halb-bewusstheit, würde ich sagen, ist überhaupt das, worauf dieses schreiben zielt. aber eine, die sich selbst genügt und weder zurück ins nicht-bewusste will noch vorwärts ins bewusste.

der rest stimmt natürlich auf klassikerhaft-zeitlose weise:

"Beim Plappern und Schnattern muss der Text bleiben und trotzdem die Last seiner selbst, des Geschriebenseins fühlen und benützen, fürs Weiterdenken ausbeuten können. So eingesetzt treibt Text das Erlebte über das Gewusste hinaus, dieser Surplus wird beim Schreiben als Glücksgefühl spürbar, später auch dem Leser. Springt der Text nicht auf diese Art um in etwas Neues, vor dem Schreiben noch nicht Gewusstes, so nicht Geplantes oder Gedachtes, bleibt er stumpf. Text ist ein experimentelles, entdeckerisches Instrument, von geburts wegen jung und heldisch aufgelegt, eine siebenfach tertiäre Naivität sei der Raum seiner Glücke, die Hut ihrer -"

ja und amen. dass mich das glücklich macht, so etwas zu lesen, zeigt, dass ich meine literatur-vergangenheit nicht überwunden habe. ich kann nur eben nichts mehr konstruktives mit ihr anfangen in dieser punktlosen scheißkultur, in der zu leben ich verdammt bin. was macht eigentlich praschl, by the way? ich habe mir sein relaunchtes matador-sexheft immer noch nicht gekauft, wollte das aber ja unbedingt tun. morgen am freisinger bahnhof.

Der Text "sollte so bewusstlos, ichstark und zugleich quasi autorschaftsfrei sein, wie das im Geschehen sich verlierende Auftreten des angenehmen, ungeduckten, uneitlen Menschen dort [im Nachtleben]."

thema text-aus-welt woanders fortgesetzt. Hier eben nachtleben statt reise-passantentum. (meine erinnerungen ans münchner nachtleben seinerzeit geben das ja nicht recht her: solche subkultur-sozialen glücksmomente entstanden für mich immer nur in verbindung mit und am rand von ästhetischen ereignissen, d.h. live-musik.)

in jedem fall muss aber "primärer" organischer brennstoff in die sekundäre textmaschine, die nur dann funktioniert, wenn die spannung primär/sekundär in keine richtung aufgelöst ist. (lotman himself erklärt so die semiosphere.) in wahrheit ist ja das text-bedürfnis primär, wie ich schon damals bei den anitsemitismus-studien gefunden habe.

merke gerade, dass ich genau deshalb nicht schreiben kann: weil ich das primäre immer schon überspringe, dass als widerstand und rohstoff notwendig ist. so wie man für einen gescheiten roman sinnlos recherchieren muss: delillo usw.

warum beglückt es überhaupt, wenn jemand aus einem gedanklich "irgendwie" jederzeit zugänglichen inhalt konkrete und gelungene sätze macht? weil sie jetzt allein stehen, mit viel weißraum drumherum, so wie skulpturen durch wegschlagen entstehen? und warum sind sätze, an denen der textprozess klebt, heutzutage so viel intensiver und relevanter als sätze, die - wie früher ja normal und sogar angestrebt - als "wahr" für sich stehen?

"Text ist hier: die aus der Sprache lebende Literatur. Und es ist interessant und entmutigend zu sehen, dass die Autoren, die diese Art sprachgenerierte Literatur machen oder gemacht haben, eigentlich immer, zwangsläufig in der Isolation, im sozialen Abseits und damit über kurz oder lang in der Verblödung irgendwelcher abgedrehter Individualkosmen, im Schwachsinn gelandet sind. Privatroman, Langsame Heimkehr, Bocksgesang."

"Keine schönere Art von Zustimmung zur eigenen Bemühung und den Resultaten gibt es, als die Ablehnung durch die, die man selber für totale Deppen hält. Die auch deshalb so blöd sind, weil sie so viel Angst haben, selber abgelehnt zu werden. Deshalb allen anderen gegenüber in vorauseilender Zustimmung entgegentreten, um so sicherzustellen, dadurch auch selber Zustimmung zu sich selbst erdealen, erzwingen zu können."

ja. meine eingefleischte idiotenstrategie seit kind an. führt interessanter weise zu genauem gegenteil, wenn man zugleich irreduzibel anders ist als die anderen.

(lese ich das richtig, dass das blog schon wieder vom netz geht? oder wechselt das bloß den server.)

        

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